Demokratie vor der Zerreißprobe – Werner Fredebold im Interview

Ist es schon zu spät – oder erst kurz davor?

by Jana Leckel
Werner Fredebold im Interview - Demokratie vor der Zerreißprobe

Wir sprachen mit Werner Fredebold, Gründer und Herausgeber des MEGAfoN Lehr- und Bildungsprogramms für Schulen. Er sagt, dass der nächste Wahlkampf, ob auf Kommunal-, Landes- oder Bundes-Ebene, noch stärker in den Schulen, von den jungen Menschen und den Neuwählern entschieden werden wird. Er hat mit mit seiner Frau und Mit-Gründerin Michaela Fredebold ein bundesweit entwickelt, das das kritische Denken der jungen Menschen fördert und sie im digitalen Wandel befähigt, sich selbst vor Manipulation und Meinungslenkung zu schützen.

Schule und Wirtschaft sind normalerweise zwei sehr unterschiedliche Institutionen. Wenn wir dies heute zum Titelthema unseres Wirtschaftsmagazins machen, dann aus gutem Grund. Für unsere Zukunft braucht es mutige und entscheidungsfähige Mitarbeitende, die unsere Wirtschaft stärken und mit unserer Demokratie verwurzelt sind. Aus der Schule oder aus den Universitäten rekrutiert, entscheiden sie auch mit, in welche Richtung sich unser Land und unsere Demokratie entwickelt, die vor einer der größten Herausforderungen unserer Zeit steht. Lügen, Propaganda, Fakes, Rassismus, Populismus, Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsfragen stellen sie vor eine große Zerreißprobe. Ein frühzeitiger Umgang mit digitalen Medien und eine klare Medienkompetenz sind die Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben. Was nützt uns ein freies Unternehmertum oder noch so gute Wirtschaftskonzepte, wenn sie irgendwann verstaatlicht würden? Das sollte die Wirtschaft der Politik in ihr gesellschaftspolitisches Stammbuch schreiben und es so einmal deutlich machen.

DIE WIRTSCHAFT: Herr Fredebold, nehmen Sie uns mal mit: Es gibt sicher zahlreiche Konzepte, die sich mit Medienkompetenz und Demokratiebildung befassen. Worin unterscheidet sich Ihr Programm von anderen, und welche Ziele verfolgen Sie dabei?

Werner Fredebold: Da muss ich ein wenig ausholen. Seit 2008 fördern wir die eigene, unabhängige Meinungsbildung von Schülerinnen und Schülern, indem wir Medien- und Nachrichtenkompetenz frühzeitig in den Schulen vermitteln. In über 75.000 Gesprächen mit Schulleitungen, Lehrkräften und Jugendlichen haben wir eine umfassende Wissensdatenbank aufgebaut, die unsere Expertise untermauert. Seit Mitte der 2010er-Jahre beobachten wir einen zunehmenden Vertrauensverlust der Jugend in Politik, Gesellschaft, Medien und Demokratie. Studien renommierter Institutionen und Universitäten aus den Jahren 2018 und 2020 bestätigen diese Entwicklung. Das Vertrauen der Jugend zurückzugewinnen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Wir haben es oft versäumt, ihnen wirklich zuzuhören und sie zu verstehen. Richtiges Zuhören bedeutet, ihre Sorgen und Wünsche ernst zu nehmen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten – nicht nur Wissen aus Erwachsenensicht zu vermitteln.
Wir sehen es als eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung an, die Jugend als Teil der Lösungen auf die Fragen unserer Zeit zu betrachten. Demokratie lässt sich nur stärken, wenn wir die junge Generation aktiv in die Gestaltung unserer Zukunft und Gesellschaft einbinden. Ich möchte unser Konzept nicht mit anderen vergleichen. Nur so viel: Wir haben in unserer Arbeit mit und in den Schulen erkennen müssen, dass Lehrkräfte oft ohne Unterstützung bleiben, wenn es um Unterrichtsmaterial zur Medien- und Nachrichtenkompetenz geht. Eine zentrale Frage der Jugendlichen bleibt dabei meist unbeantwortet: „Was haben Nachrichten eigentlich mit meinem Leben zu tun?“

DIE WIRTSCHAFT: Was meinen Sie genau damit?

Werner Fredebold: In den Lehrplänen ist ab der achten Klasse die Förderung von Medien- und Nachrichtenkompetenz fest verankert. Ein zentraler Baustein unseres Programms ist, dass wir nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern auch den Lehrkräften aufmerksam zugehört haben, um ihre Perspektiven und Bedürfnisse zu verstehen. Ich erinnere noch gut ein Gespräch mit einem Lehrer des Berufskollegs (BK) in Köln-Ehrenfeld, das verdeutlicht, worauf es wirklich ankommt: Er betonte, dass er lediglich die Fakten bräuchte und den Rest selbst übernehmen würde. Meine Frage war: Welchen Rest – und was genau machen? Daraufhin haben wir uns umgehend der Frage nach geeignetem Unterrichtsmaterial gewidmet und begonnen, ein Programm aus der Praxis für die Praxis zu entwickeln. Mit Unterstützung zahlreicher Lehrkräfte entstand das Programm MEGAfoN e:ducation, bestehend aus Synopsen, Anwendungsbeispielen sowie didaktisch und methodisch aufbereitetem Material. Ergänzt wird es durch MEGAfoN NEWS AND FACTS, die ungefilterte Originalnachrichten der dpa eins zu eins bereitstellt.
Darüber hinaus bieten wir Workshops und Vorträge an Schulen an, vor Lehrerkollegien und auf Schulleitertagungen, die ein neues Bewusstsein schaffen. Damit können Lehrkräfte unserer „MEGAfoN Partnerschulen für Meinungsbildung statt Meinungsmache“ ihren Unterricht schulfachübergreifend und effektiv gestalten – ohne unnötigen Ressourcenaufwand.

Bewusstsein schaffen

DIE WIRTSCHAFT: Das ist nachvollziehbar. Lassen Sie uns zum Kern Ihres Konzepts zurückkehren: der Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien und faktenbasierten Nachrichten der dpa. Wie tragen diese Elemente konkret dazu bei, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen?

Werner Fredebold: Wir müssen konkret da ansetzen und erinnern, worauf es auch unserer Expertise und Erfahrung nach ankommt. Ich weise hier auf den Beutelsbacher Konsens hin, der drei zentrale Prinzipien für die politische Bildung definiert: das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Orientierung an den Lernenden. Prof. Dr. Hans-Georg Wehling (1938–2021) war maßgeblich an der Formulierung dieses Konsenses in den 1970er-Jahren beteiligt. Seine Grundsätze bilden bis heute die didaktische Mindestanforderung für den Unterricht im Fach Politische Bildung. In einer Veröffentlichung auf der Homepage der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg teilte Herr Wehling hierzu seine Überlegungen mit: „Als Demokrat wird man nicht geboren, vielmehr muss Demokratie gelernt werden. Entweder von klein auf, vermittelt durch das Elternhaus, oder aber – nach einer Diktatur mit ihrer demokratiefeindlichen Ideologie und mit undemokratischen Strukturen, in der auch die Eltern keine Demokratie lernen konnten – muss der Staat eingreifen und politische Bildung im Sinne von Demokratie-Lernen organisieren.“

Und hier genau liegt unser Ansatz. Jugendliche verlieren zunehmend das Vertrauen in unsere Gesellschaft und Demokratie. Dieses Vertrauen lässt sich meist nicht über soziale Medien oder durch die Elternhäuser zurückgewinnen. Wenn wir sie nicht in gesellschaftspolitische Entscheidungen einbeziehen, verlieren wir sie weiter. Dabei geht es nicht um die große Politik aus Berlin, sondern um ihren direkten Alltag. Dessen müssen wir uns bewusst sein.
Das Kontroversitätsgebot gibt uns mit, dass das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers angewendet werden muss. Meinungslenkung hat hier keinen Platz. Wird diese entlarvt, schwindet das Vertrauen. Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, gesellschaftliche und politische Situationen eigenständig zu analysieren. MEGAfoN unterstützt dies mit spannenden Themen und gezielter Vermittlung von Nachrichten- und Faktencheckkompetenz.

Wer nicht weiß, was Demokratie bedeutet, der kämpft auch nicht um sie

DIE WIRTSCHAFT: Können Sie konkretisieren, welches Bewusstsein Sie schaffen wollen und wo?

Werner Fredebold: Lassen Sie mich das mit der Erfahrung Marco Schöneckers in seinem Unterricht beantworten, die wir hier wörtlich wiedergeben: Aus seiner Sicht und Einschätzung der Lage, und das erfahren wir aus allen unseren Gesprächen in den Schulen, übersehen wir im Alltag, dass eigentlich nur für „uns“ (Anm. d. Red.: Erwachsene, Lehrkräfte) die Demokratie selbstverständlich erscheint. Für die Schülerinnen und Schüler ist diese Selbstverständlichkeit oft nicht gegeben. Dieses Bewusstsein müssen wir schaffen.

DIE WIRTSCHAFT: Inwieweit stehen denn unsere Schulen und Lehrkräfte in der Verantwortung, wenn es um Vertrauen und Demokratiebildung geht?

Werner Fredebold: Das ist eine interessante Frage, die ich gerne mit einem Beispiel beantworte. Im Rahmen der U18-Wahl wurde ich eingeladen, an der Katharina-Henoth-Gesamtschule in Köln-Höhenberg einen Demokratiebildungs- und Faktencheck-Workshop zu leiten. Der Workshop mit dem Titel „Demokratiebildung in der Schule durch Stärkung der Medien- und Nachrichtenkompetenz – Die Enttarnung von KI-verstärkten Desinformationen / Fake News“ hat uns erneut gezeigt, wie wichtig dieses Thema ist. Besonders beeindruckt hat mich das große Interesse der Schülerinnen und Schüler, mehr über unsere Rechtsstaatlichkeit und die Herausforderungen an unsere Demokratie zu erfahren. Insbesondere das Thema „Die wichtigsten Merkmale der Demokratie“ stieß auf großes Interesse. Eine prägnante Erkenntnis stammt aus dem Austausch mit dem Schulleiter der Gesamtschule, an der der Migrationsanteil bei 85 Prozent liegt. Mit dem Schulleiter, Martin Süsterhenn, habe ich darüber gesprochen, welche Rolle, seiner Meinung nach, Lehrkräfte spielen, wenn Fake News und Lügen Meinungen lenken. Er sagte mir Folgendes: Für Martin Süsterhenn und sein Kollegium stehen das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler an erster Stelle. Daher entschied die Schulgemeinde unter seiner Leitung, eine geplante Podiumsdiskussion mit Kölner Bundestagskandidaten zur U18-Wahl abzusagen. Grund war die Angst der Schülerinnen und Schüler vor der Teilnahme einer bestimmten Partei, die bei deren Teilnahme den Schulbesuch verweigern wollten. Obwohl Martin Süsterhenn überzeugt ist, dass man sich demokratiefeindlichen Kräften stellen muss, nahm er die Sorgen seiner Schülerschaft ernst und setzte Vertrauen über mögliche Kritik von außen.

Verlieren wir unsere Kinder – verlieren wir unsere Demokratie

DIE WIRTSCHAFT: Sie sagen, wenn wir unsere Kinder verlieren, dann verlieren wir die Demokratie. Wie meinen Sie das?

Werner Fredebold: Schauen wir vier Jahre zurück, Wahlkampf 2021. Rund 23 Prozent der Jungwähler haben Grün und 21 Prozent Gelb gewählt und somit auch die Ampel ermöglicht. Sie haben den Versprechungen und guten Zielen vertraut. Rund ein Jahr später ergaben die Umfragen sinkende Zustimmungswerte, die bis zum Aus der Ampel stetig geringer wurden. Die AfD lag 2021 in dieser Zielgruppe bei 7 Prozent, DIE LINKE bei 8 Prozent. Wie war es in diesem Jahr? Wir verzeichneten bei den Jungwählern ein AfD-Plus von 14 Prozent (21 ges.), DIE LINKE plus 17 Prozent (25 ges.) und wissen um die Verluste der anderen Parteien. Sie haben einen hohen Anteil daran, dass die linken und die rechten Ränder so stark wurden. Ich sehe unsere Demokratie in ernsthafter Gefahr. Schon bevor die neue Regierung im Amt ist, sinken die Zustimmungswerte in kurzer Zeit rapide ab. Was wir im Wahlkampf erlebt haben, hat unsere Jugend nicht näher an die Politik gebracht. Wir stellen in unseren Workshops fest, dass das Vertrauen noch weiter gesunken ist.

Malen wir uns nach der jetzigen weltpolitischen und gesellschaftspolitischen Lage mal das Szenario Wahlkampf 2029 aus. Oder wird wieder früher gewählt? Wie viele Neu- und Jungwähler machen es vielleicht möglich, dass wir dann eine ganz weit rechtsstehende weibliche, dann noch demokratisch gewählte Abgeordnete zur nächsten Bundeskanzlerin vereidigen? Ich halte das nicht für abwegig, wenn wir uns nicht um unsere Kinder bemühen. Wir Alten sind irgendwann nicht mehr da und sterben den demokratischen Parteien der Mitte einfach weg. Uns allen muss bewusst sein: Wenn wir unsere Kinder verlieren, verlieren wir unsere Demokratie!

DIE WIRTSCHAFT: Das muss ja auch alles finanziert werden. Wer steht denn hinter dem entwickelten Konzept MEGAfoN? Eine rein private Initiative?

Werner Fredebold: Das Unternehmen 100ProLesen GmbH, die Inhaberin des Imprints MEGAfoN, haben meine Frau Michaela Fredebold als CO-Gründerin und ich gemeinsam auf die Beine gestellt. Uns war von Anfang an wichtig, dass wir unabhängig sind und bleiben. Wir uns keiner politischen Richtung, keiner Religion oder Kultur, keiner Partei, keinem Unternehmen und keiner anderen Gruppe gegenüber verpflichten. Gerade in der Vermittlung von Medien- und Nachrichtenkompetenz halten wir diese Haltung für unerlässlich. Und ja, wir haben das ganze Konzept aus eigenen Mitteln vorfinanziert, was seit Entwicklungsanfang 2019 mit allen Weiterentwicklungen schon sehr herausfordernd war und in diesen Zeiten weiterhin ist. Schon immer hat die Wirtschaft zielführende Bildungsthemen unterstützt.

DIE WIRTSCHAFT: Wir funktioniert das genau? Mit welchen Argumenten überzeugen Sie die Unterstützer?
Werner Fredebold: Das ist eine Frage, deren Antwort ich gerne meiner Frau und Mitgründerin vorbehalte, die den Aufbau unseres Kundennetzwerks verantwortet.

Michaela Fredebold: Wir nennen unsere Unterstützer „Wegbereiter“, die Schulen den Weg und den Zugang zu unserem Programm bereiten. Sie kommen aus der Wirtschaft, aus Institutionen, Stiftungen oder / und Personen des öffentlichen Lebens. Ihr Engagement basiert auf einem Regelwerk, das jedes mittlere und größere Unternehmen seit dem 1.1.25 verfolgen muss: ESG – „Environmental, Social and Governance“ („Umwelt, Soziales und Unternehmensführung“). Ein Regelwerk, das die nachhaltige und ethische Praxis von Unternehmen bewertet. Das S steht für Social (u. a. Bildung und Demokratie), und ESG-Experten bescheinigen dem MEGAfoN-Konzept die höchste Glaubwürdigkeit in Bezug auf Medien- und Nachrichtenkompetenz.
Wir schließen mit den Unternehmen entsprechende Vereinbarungen / Kooperationsverträge, in denen die in die öffentliche Wahrnehmung gerichtete Vermarktung des Engagements in Form einer sogenannten MARKENPARTNERSCHAFT geregelt wird. Und das mit unterschiedlichen Einstiegsmöglichkeiten, unserem Netzwerk beizutreten.

DIE WIRTSCHAFT: Und welche Unternehmen überzeugen Sie davon, hier unterstützend einzusteigen?

Michaela Fredebold: Sie hier benennen möchte ich nicht, da uns alle sehr lieb und herzlich willkommen sind. Wir präsentieren diese Unternehmen u. a. auf der Startseite unserer Homepage www.megafon-online.de. Dennoch möchte ich gerne ein Statement eines Wegbereiters, stellvertretend für alle, aus dem Herausgeberinterview meines Mannes mit Herrn Anton Bausinger, Bauunternehmer aus Köln, anführen. Herr Bausinger unterstützt mit seinen Firmen Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule am Wasseramselweg in Köln-Vogelsang. Im Interview, in dem es unter anderem um Meinungsbildung und Toleranz ging, hat er Folgendes gesagt: Ein Statement, dem man nichts mehr hinzufügen muss.

DIE WIRTSCHAFT: Vielen Dank, Herr Fredebold. Dann lassen Sie uns dennoch, und das vertreten Sie, Ihre Frau und Ihr Team ebenso, optimistisch nach vorne schauen und dort anpacken, wo es sein muss. In der Verwurzelung unserer Kinder mit der Demokratie und Stärkung ihrer eigenen, unabhängigen Meinungsbildung.

(Eugen Weis)

Weitere Infos: www.megafon-online.de

Bildquellen

  • wf_LEX5690 Kopie: Alex Weis

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